Das Web ist eine Wandtafel

1. Juni 2013

Die “Wandtafel” des weltgrössten Schulzimmers: Die Screencasts der Khan Academy erreichen Millionen von Wissbegierigen.

Die Kahn Academy bietet Tausende kostenloser Lernvideos an. Universitäten lancieren gemeinsam frei zugängliche Online-Lehrgänge. Erleben wir eine nächste Stufe des demokratisierten Wissens oder sind das blosse Marketing-Hypes?

Salman Khan legt los wie immer: mit einem schwarzen Bildschirm. Dann ertönt seine Stimme aus dem Off und er beginnt mit dem Mauszeiger Zahlen zu zeichnen. Während zehn Minuten kritzelt er Erklärungen, Gleichungen und Beispiele auf die schwarze Oberfläche, wischt aus, schreibt erneut, wischt aus. Diesmal geht es um Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Über 4’000 solcher Lernvideos hat Khan bislang veröffentlicht. Er spricht über die Grundlagen der Mathematik, über lineare Algebra, über Physik, über Biologie oder über organische Chemie. Alle Videos folgen dem gleichen, simplen Drehbuch: Khan schreibt auf die schwarze Oberfläche, erklärt, löst Beispiele. Frontalunterricht in Reinform, wie er von der modernen Pädagogik eher belächelt wird. Sieht so die weltumspannende Lernrevolution aus?

Immerhin hat Salman Khan mit seinen Screencasts eine unerwartete Welle ausgelöst, seine Beiträge werden millionenfach angeklickt. Mehr aus Notwendigkeit denn aus Kalkül begann er 2006 in Boston, Lernvideos zu produzieren und auf YouTube zu veröffentlichen. Seine Cousine, die an der High School in New Orelans in einem Dauerstreit mit der Mathematik lag, hatte ihn darauf gebracht. Es dauerte nicht lange und seine Videos rangierten ganz oben auf der YouTube-Bestenliste. In Kommentaren erhielt Khan Zuspruch, Lob und Dank. Drei Jahre nach seinem ersten Youtube-Upload gab er seinen Job als Finanzanalyst auf, um sich ganz auf das Vermitteln von Wissen zu konzentrieren. Was man Salman Khan in jedem seiner Screencasts abnimmt: Die ehrliche Begeisterung für den Stoff, den er erklärt und sein profundes Fachwissen. Er überzeugt, weil er von der Wichtigkeit seiner Inhalte überzeugt ist. Heute unterstützen Prominente wie Bill Gates die vor vier Jahren gegründete Khan Academy. Zu den Videos sind interaktive Lernkontrollen dazugekommen. Was als Experiment im Kleinen begann, hat sich zur meistgenutzten Lernseite im WWW entwickelt, pro Monat zieht der YouTube-Kanal sechs Millionen Besucher an. Mittlerweile sind rund 300 Videos auf deutsch erschienen (de.khanacademy.org).

Kritiker der Khan Academy, darunter nicht wenige Pädagogen, prangern an, dass diese Videos zu einer passiven Haltung des Lernkonsums verleiten und die Position der Lehrperson beschneiden. Khan selber streicht die humanistische Absicht des Projekts heraus und betont, er wolle einzig und allein Wissen leichter zugänglich machen, die Khan Academy sei “virtuelle Erweiterung einer globalen Dorfschule”. Dass seine Videos eine Lehrperson ersetzen könnten, ist für ihn unvorstellbar. Vielmehr sieht Khan darin einen Zugang zu individualisiertem Lernen, ob im Klassenverband oder im Selbststudium.

Einzelne amerikanische Schulen haben die Videos der Khan Academy intensiv eingesetzt. Dabei liess sich auch eine Umkehr der gewohnten Verteilung von Lernen und Üben beobachten. Wird der Stoff in aller Regel im Unterricht vermittelt, um ihn danach zu Hause zu üben, stellten die Videos diesen Prozess auf den Kopf: Die Schüler bekamen die Hausaufgabe, sich die nächsten Lektionen anzusehen und im Unterricht wurde dann gemeinsam geübt.

Wie sich mit solchen Erklärclips im Netz Geld verdienen lässt, erproben im deutschsprachigen Raum mehrere Projekte. Als Anlaufstelle für Nachhilfe bietet das vom Klett-Verlag mitfinanzierte Portal sofatutor.com Bezahlvideos mit schulrelevanten Themen an. Auch das “Social Video Network” Sevenload will sich in diesem Markt positionieren und präsentiert auf vilogo.tv von “Phrasal verbs” bis zum Coulomb’schen Gesetz Lernclips. Zur Finanzierung wird hier Werbung abgespielt.

Angestachelt durch den Erfolg der Khan Academy hat auch die klassische Hochschulbildung begonnen, sich stärker mit den Formen des Onlinelernens auseinanderzusetzen. Quasi als “grosser Bruder” der Erklärvideos sind so genannte MOOCs (Massive Open Online Courses) entstanden. Plattformen, die ganze Vorlesungen im Internet zugänglich machen und darüber hinaus inhaltliche Mitarbeit verlangen, sei es in Diskussionsbeiträgen oder Übungen. Die bekanntesten Beispiele dafür sind Coursera, EdX oder Udacity (www.coursera.com, www.edx.org, www.udacity.com). In der Schweiz beteiligen sich die ETH, die EPFL und die Universität Genf mit Kursen auf Coursera, der mit 2 Millionen Nutzern grössten MOOC-Plattform. Inwieweit diese “Online-Unis” die Hochschullehre verändern werden, ist unklar, noch gibt es für MOOCs weder ECTS-Punkte noch offizielle Testate.

Wer MOOC-Luft mit pädagogischem Parfum schnuppern möchte, kann aktuell den deutschsprachigen Kurs “COER13” mitverfolgen. Dieser thematisiert offene Bildungsressourcen, neudeutsch “Open Educational Resources”, und dauert vom 8. April bis zum 28. Juni (www.coer13.de).

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