Ein Ort für individuelles Lernen

1. Juli 2015

Der Pavillon der Schule Seengen hat den Jan-Amos-Comenius-Preis der PH FHNW erhalten.

Wie gewinnt man mit einem alten Holzpavillon einen Bildungspreis für pädagogische Innovation? Die Schule Seengen macht’s vor.

“Ta-ga-te-ge, ta-te, ta-te, ta-ga-te-ge.” Langsam klatscht Leah den Rhythmus, Chiara spricht die Silben dazu und versucht, mitzuklatschen. Es ist Montagnachmittag, die Schule ist aus, doch im Pavillon der Schule Seengen am Hallwilersee herrscht reger Betrieb. Chiara muss die Taktsprache üben und sie will wissen, was ein Rondo ist. Da kommt Leah wie gerufen. Die Bez-Schülerin arbeitet als Lerncoach im “Lernort Pavillon-Lernatelier”. Heute hilft sie der Sechstklässlerin Chiara und zeigt ihr, wie sie die vorgegebenen Rhythmen selber klatschen kann. Die beiden sitzen im kleinen Aufgabenraum des Pavillons, auch in den Räumen nebenan herrscht Betrieb. 
Umgeben von den Primar- und Oberstufenschulhäusern, die architektonisch aufgeräumt daherkommen, wirkt der Holzpavillon mitten auf der Schulanlage etwas aus der Zeit gefallen. Ursprünglich diente er der Gemeinde Seengen als Verwaltungstrakt, später wurde er zum Lehrerzimmer und zum Kursort für den Samariterverein umfunktioniert. 2012 fand das Lehrerzimmer in einem neuen Schulhaus Platz. Die Gemeinde plante, den Pavillon abzubrechen. Doch Schulleiter Urs Bögli konnte den Gemeinderat umstimmen. Der Pavillon blieb stehen und das Projekt “Lernort Pavillon-Lernatelier” nahm seinen Lauf. “Wir stellten uns in den vergangenen Jahren immer wieder die Frage, wie wir die Heterogenität und Individualität der Kinder und Jugendlichen aufgreifen können”, erklärt Urs Bögli. Seit 2009 ist die Schule Seengen am Hallwilersee eine integrative Schule. Möglichst alle Kinder und Jugendlichen sollen in Regelklassen lernen können, auch wer Lernschwierigkeiten hat oder hochbegabt ist. Damit das gelingt, ist spezielle Förderung notwendig. “Mit dem 2012 lancierten ‘Lernort Pavillon-Lernatelier’ wollen wir dem eigenverantwortlichen und individuellen Lernen einen Ort geben”, sagt Urs Bögli.

Einstein, Steinbruch, Ateliers
Als Vorteil erwies sich hierbei die Raumaufteilung des Holzpavillons mit seinen kleinen und mittelgrossen Zimmern. Darin entstanden in den drei Jahren unterschiedliche Angebote und Nutzungsformen. Neben dem kleinen Aufgabenraum, in welchem Leah Chiara bei den Hausaufgaben hilft, stehen sechs weitere Räume zur Verfügung: Ein grosser Aufgabenraum, der die Begabtenförderung “Einstein” beherbergt. Ein Schulzimmer mit zehn Arbeitsplätzen, genutzt für Einzel- oder Gruppenarbeiten und für die integrative Schulung (IS) lernschwacher Kinder und Jugendlicher. Ein Spielraum, der gleichzeitig mit einer Küche ausgerüstet ist. Ein Lernatelier mit 15 Einzelplätzen für mucksmäuschenstilles Arbeiten. Eine Werkstatt, in der ein Sonderschüler beispielsweise den schuleigenen Pausenkiosk gezimmert hat. Und der “Steinbruch” – hierhin kommen Jugendliche, die sich eine Strafe eingefangen haben. Sie sägen Brennholz zu, stellen Produkte her und verdienen so das Geld, das Lerncoaches wie Leah für ihre Hausaufgabenhilfe verdienen.
Noch vor dem Beginn des Projekts 2012 war klar, dass der Pavillon kostenneutral funktionieren muss. Ausgemusterte Schulmöbel kamen zu einem unverhofften Revival, ansässige Unternehmen wurden für Sachsponsoring angefragt. Die Betreuung im Pavillon von Montag bis Freitag von 7:30 bis 11:50 und 13:20 bis 17 Uhr übernehmen die Oberstufenlehrerin Caroline Bosshard und der Heilpädagoge Hanspeter Neeser. Die Schule finanziert diese Betreuung durch die vom Kanton bewilligten IS-Lektionen. Ein wichtiger Bestandteil sind zudem die Lerncoaches, die nach dem Motto “Schüler für Schüler” im Pavillon mithelfen. Aktuell teilen sich vier Lerncoaches in ihrer schulfreien Zeit die Einsätze, sie erhalten pro Stunde 10 Franken. 
Während der dreijährigen Projektdauer hat vor allem die freiwillige Lernzeit vor oder nach dem Unterricht deutlich zugenommen. Wer im Lernpavillon ein Angebot nutzt, trägt sich in einem Präsenzbuch ein. Dadurch lassen sich die Frequenzen auf den Tag genau analysieren. “Im Schuljahr 2013/14, dem zweiten Projektjahr, zählten wir knapp 8’000 Lektionen. Diese Zahl bezieht sich auf einzelne Schüler pro Lektion”, sagt Urs Bögli. Das Angebot habe sich etabliert, bei den Schülerinnen und Schülern, bei den Lehrpersonen und bei den Eltern. “Aussagen wie ‘Ich profitiere von den Lerncoaches’ oder ‘Man kann in Ruhe arbeiten’ bestärken uns darin, den eingeschlagenen Weg weiterzuverfolgen.” Auch wenn baulich nicht das Prunkstück der Schulanlage, so sieht Urs Bögli im “Lernort Pavillon-Lernatelier” doch so etwas wie das heimliche Zentrum der Schule Seengen. “Wir vermitteln mit dem Pavillon wichtige Botschaften: Freiwilliges Lernen ist in, Schüler helfen Schüler, alle profitieren.” Und so ist für die Schule und die Gemeinde schon jetzt klar, dass mit dem Ende des Holzpavillons, der 2018 definitiv weichen muss, ein ähnlicher Bau dieses Konzept weitertragen und ausbaufähig machen soll.

Andere Schulen sind interessiert
Die Pädagogische Hochschule FHNW hat die Schule Seengen für den “Lernort Pavillon-Lernatelier” ausgezeichnet und ihr Ende März den mit 10’000 Franken dotierten Jan-Amos-Comenius-Preis verliehen. Die Jury begründete den Entscheid mit dem gelungenen Nebeneinander von individualisierenden Lernangeboten. Es handle sich um einen innovativen Ansatz, wie eine Schule mit einem ganzheitlichen Konzept  auf Heterogenität reagiere: Personalisieren, ohne auszuschliessen. Und diese Konzept strahlt über die Gemeindegrenzen hinaus. 10 bis 15 Schulteams besuchen die Schule Seengen jährlich, um sich einen Eindruck des Lernpavillons zu verschaffen.
Seit Anbeginn im Projekt “Lernort Pavillon-Lernatelier” involviert ist Heilpädagoge Hanspeter Neeser, er leitet den Pavillon an drei Wochentagen. Neeser unterstützt die Kinder und Jugendlichen beim Lernen, organisiert und bereitet Material vor und führt seine IS-Lektionen im Pavillon durch. Er schätzt den handlungsorientierten Ansatz dieses Projekts. “Wir bieten im Pavillon viele Zugänge zum Lernen das wirkt befruchtend. Es kommt immer wieder vor, dass sich Kinder gegenseitig über die Schultern schauen und voneinander wissen wollen, was sie machen.” Im Austausch mit Bildungsfachleuten treffe er auch auf kritische Stimmen, die den Seenger Lernpavillon als zu wenig integrativ bezeichneten, weil die Kinder hier ausserhalb des Klassenverbands arbeiteten, sagt Neeser. “Doch in meinem Augen ermöglichen wir eine funktionierende und ehrliche Form von Integration. Wir verstehen unser Projekt als Beitrag dazu, die Lehrpersonen zu entlasten und die Kinder und Jugendlichen an ihrem individuellen Lern- und Wissensstand abzuholen.”
Mittlerweile ist es im kleinen Aufgabenraum im Pavillon ruhig geworden. Chiara hat die Rhythmen im Griff und kann anhand eines Beispiels auch das Rondo erklären. Sie verabschiedet sich von Leah und Hans-Peter Neeser und macht sich auf den Heimweg. Aber nicht ohne vorher zu versichern: “Ich komme morgen wieder.”
 

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