Forschen, was die Kiste hält

1. Februar 2006

Die Forscherkiste im Einsatz: Viert- und Fünftklässler der Mehrklassen- schule Sulzbach nehmen ihre Expe- rimente entgegen.

Lernen greifbar machen, Staunen und Neugierde fördern; mit der Forscherkiste hat Gerd Oberdorfer diese pädagogische Grundhaltung ganz konkret in den Schulalltag übertragen. Innert kurzer Zeit sind drei seiner rollenden Experimentiersammlungen entstanden.

Tamara und Markus stehen am Tisch, vor ihnen eine Flasche mit Wasser und ein leerer Becher. Immer wieder kichern die beiden. Tamara versucht, Wasser in ein Glas einzuschenken, eigentlich mega einfach für eine Fünftklässlerin. Nicht so für Tamara, sie trägt eine spezielle Brille, die Umkehrbrille. Alles steht Kopf, jede Bewegung muss horizontal umgekehrt werden, sonst greift man daneben, läuft in Hindernisse und findet sich nicht zurecht. Markus hilft Tamara, er gibt ihr Tipps, wie sie die Flasche bewegen soll. Endlich klappt es, ohne Wasser zu verschütten kann sie das Glas füllen und zieht die komische Brille stolz ab. Kurz danach sitzen die beiden am Pult und notieren ihre Beobachtungen und Erfahrungen ins Experimentierheft. Die Viert- und Fünftklässler, die an diesem Nachmittag mit den Forscherkisten arbeiten, strahlen Neugier aus, sie tüfteln, probieren und lassen sich nicht so schnell entmutigen, wenn etwas nicht gleich funktioniert.

Ganz im Sinn von Comenius

"Es steht ein klares Prinzip dahinter", erklärt Gerd Oberdorfer, "ich verstehe meine Forscherkiste als offenes Angebot an die Schülerinnen und Schüler. Es geht mir nie darum, ihnen ein Phänomen vorzuführen, ihre Neugierde und ihr Handeln soll sie selber dorthin leiten." Der erfahrene Primarlehrer, der im appenzellischen Oberegg an der Mehrklassenschule Sulzbach wirkt, hat mit dem Konzept der Forscherkiste das pädagogische Postulat von Comenius umgesetzt: Lernen mit allen Sinnen.

Seit Ende der achtziger Jahre befasst sich Oberdorfer, neben seiner Arbeit in Sulzbach Dozent an der PH Rorschach und Mitglied der Pädagogischen Kommission des LCH, mit Comenius' Ideen. Als erstes Resultat davon zeugte das erfolgreiche Werkbuch "Das springende Ei", welches der Zytglogge Verlag im kommenden Jahr in sechster Auflage präsentieren wird. "Viele der über 200 Experimente in der Forscherkiste stammen aus diesem Werkbuch", führt er aus, "in der Forscherkiste sind sie farblich den verschiedenen Sinnen zugeordnet. Für die Mathematik ist ein eigener Bereich eingerichtet."

Die Forscherkiste ist einem stetigen Entwicklungsprozess ausgesetzt; was sich nicht bewährt wird entfernt und mit neuen Experimenten ersetzt. Im Frühling 2004 wurde der Prototyp der Froscherkiste in Form eines Car-Anhängers fertig gestellt, dieser steht mittlerweile in der PH Rorschach und kann ausgeliehen werden. Da Oberdorfer im eigenen Unterricht nicht auf den Einsatz der Forscherkiste verzichten wollte, machte er sich auf die Suche nach Sponsoren und konnte im Sommer 2005 seine zweite Forscherkiste in Betrieb nehmen. Finanziell unterstützt haben ihn dabei der LCH, der Kanton Appenzell, die Bank Vontobel und die Stiftung für hochbegabte Kinder hbK. In Kanton Bern hat seine Idee erste Nachahmer gefunden, fünf pensionierte Lehrpersonen haben eine Forscherkiste mit denselben Inhalten gebaut und im vergangenen Herbst der Öffentlichkeit vorgestellt.

Einsatz im Unterricht?

In seinem Unterricht ist die Forscherkiste momentan das Jahresthema. "Die Kinder haben jede Woche Zeit, sich mit einem Experiment nach Wahl auseinander zu setzen. Im Vordergrund steht ihr eigenes Forschen und Entdecken, wenn dabei nichts Neues herauskommt oder ihnen ein Experiment ablöscht, so ist auch das eine Erkenntnis in ihrem eigenen Lernen", beschreibt Oberdorfer den Einsatz der Forscherkiste seinem Unterricht. Vielfach werden die Forscherkisten, diejenige in Rorschach oder seine eigene, für Projektwochen ausgeliehen. Geht es um die Sinneswahrnehmung oder um naturwissenschaftliche Phänomene, kann mit der Forscherkiste eine ideale Plattform zum eigenständigen Lernen und Forschen angeboten werden. "Die Anleitungen zu den einzelnen Experimenten sind bewusst kurz gehalten, ich will nicht, dass die Kinder etwas nach vorgeschriebener Methode abstottern, sie sollen selber suchen und auch mal etwas falsch machen", erklärt Oberdorfer.

Wichtig ist für ihn auch die verbesserte Partizipation der Mädchen. Oft stellen Lehrpersonen fest, dass Mädchen wenig Interesse für naturwissenschaftliche oder mathematische Fragestellungen zeigen. "Mit dem praktischen, erfahrungs- und sinnesorientierten Arbeiten der Forscherkiste erhalten die Mädchen Anreize, die sie genau so motivieren wie die Knaben. Forschen kennt kein Geschlecht", bringt Oberdorfer seine Beobachtungen auf den Punkt. Indem die Kinder alle Experimente im Tandem ausführen, wird die Kommunikation, das partnerschaftliche Lernen gefördert, so entsteht die Lösung zu einem Problem im Dialog.

Ein Umstand, der diesem dialogischen Ansatz zu Gute kommt, ist die Struktur der Mehrklassenschule Sulzbach. "Ich stehe für altersgemischtes Lernen ein. Wenn Sechstklässler Viertklässler etwas erklären, festigen sie ihr eigenes Wissen und geben es auf verständliche Art und Weise weiter", hält Oberdorfer fest. Überhaupt sei die Arbeit mit der Forscherkiste an kein Alter gebunden, auch Erwachsene liessen sich immer wieder von den Inhalten der Forscherkiste faszinieren. Oder wie seine Schüler und Schülerinnen sagen: "Da isch öfach bubig!"

Einziger Wermutstropfen in Sulzbach ist die unsichere Zukunft; im Zuge von kantonalen Sparmassnahmen soll das Mehrklassenschulhaus in absehbarer Zeit geschlossen werden, obwohl die Schülerzahlen stabil bleiben. Noch ist aber hierzu nicht das letzte Wort gesprochen und wer Gerd Oberdorfer kennt, weiss, dass er sich noch einiges zur Rettung des Schulhauses Sulzbach einfallen lassen wird.

forscherkiste.pdf (216.48 KB)