Offene Daten für eine gerechtere Gesellschaft?

15. November 2012

In einer Netzstruktur verbreiten sich Daten unkontrolliert.

Das Grundkonzept des Internets sieht keine Grenzen vor, im Gegenteil, Daten sind zugänglich wie nirgends sonst. Verfechter von „Open Data“ wollen daraus mehr Nutzen ziehen und diese Entwicklung vorantreiben. Die Bildungspolitik braucht Visionen, wie Schulen im digitalen Umfeld umgehen sollen.

Kennen Sie Christian Heller? Nein? Nichts einfacher, als das zu ändern. Über den Berliner lässt sich mit wenigen Klicks mehr herausfinden als über den eigenen Nachbarn. Im September 2012 hat Christian Heller 997 Euro ausgegeben, seine Steuererklärung im Jahr 2011 belief sich auf 6914 Euro. Am 26. Oktober 2012 ist er um 9:30 Uhr aufgestanden, hat online News gelesen, dann sein Fitnessprogramm abgespult. Und er isst regelmässig Döner. Finanzen, Tagesablauf, Arbeit, Gewohnheiten: Christian Heller lebt im Internet die schonungslose Transparenz vor und hat darüber ein Buch geschrieben, „Post Privacy – Prima leben ohne Privatsphäre“. Darin umreisst er eine Zukunft, die davon ausgeht, dass Privatsphäre ein überholtes Konzept ist. Was andernorts mit dem Begriff des gläsernen Menschen umschrieben wird, ist für Heller die bewusste Reaktion, mit den entfesselten Daten im Internet umzugehen. Den Kampf, den Datenschützer gegen Verletzungen der Privatsphäre führen, deklariert er zum Kampf gegen Windmühlen, der auf lange Sicht nur mit einer Niederlage enden kann. Diese Prognose tönt verwegen, doch Heller betrachtet vor allem die gegenteilige Entwicklung – verstärkte Datenschutzmechanismen, schärfere Kontrollen des Internets – als Utopie. Und mit der Forderung nach „offenen Daten“ will Heller in erster Linie den Staat in die Pflicht nehmen, seine Daten, die er über die Gesellschaft und die Bürger sammelt, zugänglich zu machen.

Um der Gefahr zu entgehen, als Fantast abgestempelt zu werden, beleuchtet Christian Heller in seinem Buch überdies historische Prozesse und zeigt auf, wie sich das Konzept der Privatsphäre in der Vergangenheit stets verändert hat. Hielten die Römer mit der „Res publica“ das öffentliche Leben hoch, so wurden mit dem im 18. Jahrhundert erstarkten bürgerlichen Lebensideal die Zäune und Mauern hochgezogen. Privatsphäre gewann an Bedeutung und dehnte sich aus. Vor dem Hintergrund des globalen Datennetzes stellt Heller diese Haltung grundsätzlich in Frage.

Netzaktivisten im Aufwind

Christian Heller gehört zur Szene der Netzaktivisten, die sich im deutschen Raum vor allem in Berlin konzentriert. Oberste Maxime: Freier Netzzugang für alle und keine Barrieren für Datenfluss. Die Netzaktivisten sehen das Internet als Werkzeug einer Revolution, die zu einer offenen und gerechteren Gesellschaft führen soll. Mit der Gründung der Piratenpartei hat diese Idee in Deutschland ihren Platz auf dem politischen Parkett eingenommen. Nach einem kometenhaften Aufstieg durchlaufen „die Piraten“ derzeit eine Phase der innerparteilichen Aufreibung. Es gelang ihnen bisher nicht, mit Lösungen zu punkten.

Die Frage des Datenschutzes erregt in Deutschland mehr Aufmerksamkeit als in der Schweiz. Deutschland kennt eine sensible Datenschutzgesetzgebung, das Streetview-Projekt von Google erfuhr in deutschen Städten starke Gegenwehr. In einem globalen Zusammenhang stossen aber staatliche Rechtsprechungen an Grenzen. Die amerikanische Justiz beisst sich an Wikileaks die Zähne aus und kann gegen Julian Assange bis heute keine Anklageschrift wegen Datenschutzverletzung vorlegen. Und auch wenn sich Staaten wie China, Iran oder Weissrussland mit Repression und Zensurmaschinerien gegen die freie Meinungsäusserung im Internet stemmen, langfristig dürften diese virtuellen Schlagbäume nicht funktionieren. Bereits heute bestehen Schlupflöcher. Gruppierungen wie das Hacker-Kollektiv „Anonymous“ setzen sich für die freie Netzkultur ein und hebeln rigide Zensurbemühungen technisch aus.

„Digitale Nachhaltigkeit“ im Parlament

In der Schweiz fristet Netzpolitik (noch) ein Mauerblümchendasein. Das mag einerseits beruhigend wirken, da freier Zugang zum Internet und freie Meinungsäusserung fest im Schweizer Demokratieverständnis verankert sind. Anderseits bleibt unbeantwortet, wie die Politik künftig mit Themen wie Netzneutralität, Datenschutz oder Privatsphäre umzugehen gedenkt. Als einzige Partei haben sich die Grünen positioniert und im vergangenen August eine Resolution zur Netzpolitik verabschiedet. Darin fordern sie: Gleichbehandlung aller im Internet und keine Bevorzugung von Daten (Netzneutralität); Schutz der Privatsphäre; Einhaltung der Urheberrechte und Stärkung alternativer Lizenzmodelle; Förderung von Open Source Software und Open Data; ökologische Energie- und Ressourcenbeschaffung sowie eine Stärkung der Medienkompetenz.

In Bundesbern kümmert sich seit drei Jahren die Parlamentarische Gruppe „Digitale Nachhaltigkeit“ darum, politische Debatten über Netzpolitik und den digitalen Wandel zu lancieren. 40 Parlamentarier aus allen Parteien beteiligen sich in der Gruppe. Laut Geschäftsführer Matthias Stürmer liegen die Schwerpunkte bei „Open Source Software“, „Open Government Data“ und „Open Access“. „Aus unserer Sicht muss die Politik mit gutem Beispiel vorangehen und aufzeigen, welche Chancen der digitale Wandel bietet“, erklärt Matthias Stürmer. In Bereichen wie Finanzen, Transport, Geografie oder Abstimmungen würden Daten brach liegen, die von grossem Nutzen seien. Als konkretes Beispiel verweist Stürmer auf das Projekt des Berners Thomas Preusse, der eine Applikation programmiert hat, um das Budget der Stadt Bern zu visualisieren. Anstatt auf über 600 Seiten Tabellen zu wälzen, lässt sich das Budget nun als Webanwendung aufrufen und in Form von unterschiedlich grossen Kreisen viel effizienter analysieren. Stürmer betont: „Uns geht es nicht um die Aufhebung oder Aufweichung der Privatsphäre. Wir verlangen offene Zugänge zu den Verwaltungsdaten, die uns im Alltag weiterhelfen.“ Projekte dazu laufen an – auf kommunaler Ebene in den Städten Bern und Zürich.

Auch die Bildungspolitik muss aus Sicht von Matthias Stürmer noch stärker sensibilisiert werden. „Wenn Unternehmen wie Mircosoft oder Apple eine marktbeherrschende Stellung einnehmen und den Schulen ihre Geschäftsmodelle diktieren, ist die Bildungspolitik gefordert und muss ihrerseits Konzepte vorlegen, wie Schulen im digitalen Umfeld operieren können.“ Dabei gelte es auch, vorhandene Ressourcen geschickt zu vernetzen, damit eine Vielfalt an Inhalten und Methoden entstehe. „Wenn ich daran denke, wie viel Material erfahrene Lehrpersonen auf ihren Computern horten, sehe ich enormes Potenzial, das noch ausgeschöpft werden kann. Würde man hier Anreize zum Austausch schaffen, hätte dies einen grossen Effekt auf die Lehr- und Lernkultur.“

International nicht spitze

Offene Lerninhalte, im internationalen Kontext Open Educational Resources (OER) genannt, haben in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Ob sie von Lehrpersonen oder Dozenten stammen, ob sie von öffentlichen Institutionen, NGO oder Unternehmen herausgegeben werden: Diese Materialien stehen zum freien Gebrauch, werden nicht selten in technisch offenen Formaten angeboten und lassen sich damit flexibel verwenden. Mittlerweile existieren Datenbanken mit über 100'000 Lehr –und Lernressourcen, Vorreiter dieser Entwicklung sind amerikanische Universitäten. Diese gehen aktuell gar noch einen Schritt weiter und publizieren gesamte Vorlesungen online, um sich als Marke im internationalen Hochschulmarkt zu positionieren. Doch die Verwaltung von digitalen Unterrichtsmaterialien stellt eine grosse Herausforderung dar, insbesondere was die Qualität und das Copyright anbelangt. Während Qualitätsstandards weitgehend von den jeweiligen Initianten abhängig sind, setzt sich im Copyright zunehmend das System der Creative-Commons-Lizenzen durch, das für nichtkommerzielle Inhalte sechs Modelle zur digitalen Veröffentlichung anbietet.

Ein Experte für OER im deutschsprachigen Raum ist Martin Ebner, Forscher und Leiter der Abteilung Vernetztes Lernen an der Technischen Universität Graz. Ebner ist verantwortlich für die Publikationsreihe „Beiträge zu offenen Bildungsressourcen“, die komplett online veröffentlicht wird. Für den dritten Band, “Konzept für Open Educational Resources im sekundären Bildungsbereich“, wurden 46 Bildungsportale aus der Schweiz, Deutschland und Österreich untersucht und auf ihre Tauglichkeit als OER-Projekt analysiert. 12 Portale genügten den Ansprüchen, darunter die Schweizer Projekte SwissEduc, EducETH und der Zentralschweizer Bildungsserver. Die Studie bilanziert, dass im internationalen Vergleich Defizite bestehen und im deutschsprachigen Raum noch viel Überzeugungsarbeit notwendig ist, um das Potenzial offener Lehr- und Lernressourcen auszuschöpfen.

Damit solche Materialien den Weg zu den Lehrpersonen finden, sind gute Suchmaschinen gefragt. „Googeln“ als Allzweckwaffe ist oft zeitraubend und nicht auf Lerninhalte eingegrenzt. Mit der digitalen Schulbibliothek will educa.ch hier Abhilfe schaffen und einen zentralen Suchkatalog aufbauen. Ziel ist es, Anbieter von OER ins Boot zu holen und deren Ressourcen in den Suchindex aufzunehmen. Derzeit ist educa.ch damit beschäftigt, den Partnern, welche Ressourcen in der digitalen Schulbibliothek verschlagworten wollen, Zugänge zum nationalen Katalog zu installieren. Priorität geniessen dabei die Medien- und Dokumentationszentren der Pädagogischen Hochschulen. In die Katalogisierung wurden auch sämtliche Creative-Common-Lizenzen aufgenommen. Damit will educa.ch unterstreichen, dass Lehrpersonen offene Materialien benötigen, die sie ihren Bedürfnissen anpassen können.

Weiter im Netz

www.plomplomplom.de
Mithilfe eines Wikis dokumentiert Christian Heller seine Aktivitäten.

www.bern.budget.opendata.ch
Das visualisierte Budget der Stadt Bern.

www.digitale-nachhaltigkeit.ch
Die Parlamentarische Gruppe „Digitale Nachhaltigkeit“ macht den digitalen Wandel zum politischen Thema.

www.gruene.ch/web/gruene/de/news/netzpolitik.html
Die Resolution zur Netzpolitik der Grünen Partei der Schweiz.

www.oercommons.org
Eine internationale Initiative zur Förderung von offenen Lerninhalten.

www.l3t.eu/oer
Die Publikationsreihe von Martin Ebner (TU Graz) zu offenen Bildungsressourcen.

www.coursera.com
Die Online-Vorlesungsdatenbank der Universitäten Princteon, Standford, Michigan und Pennsylvania.

www.biblio.educa.ch 
Die digitale Schulbibliothek von educa.ch.

www.bildungsserver.de/elixier/
Der deutsche Bildungsserver führt einen zentralen Suchindex für Unterrichtsmaterialien, die deutsche Bildungsportale horten. 

OffeneDaten.pdf (121.21 KB)

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