Jede vierte Primarklasse in der Schweiz wird altersgemischt geführt, Tendenz steigend.
Lernen in altersgemischten Gruppen erlebt einen Boom. Das hat die LCH-Tagung «Lernen sichtbar machen» in Luzern unterstrichen. Doch mehr als strukturelle Vorgaben setzt dieses Konzept vor allem eine pädagogische Überzeugung voraus.
Wer sich vom bernischen Steffisburg in Richtung Hohgant aufmacht, passiert das linke Zulgtal und die Gemeinden Schwendibach, Homberg, Teuffenthal und Horrenbach-Buchen. Kleine Weiler und vereinzelte Bauernhöfe prägen das voralpine, malerische Landschaftsbild. Rund 1000 Einwohnerinnen und Einwohner, darunter 160 Schülerinnen und Schüler, verteilen sich auf einem Gebiet von 15 Kilometern Länge. Altersgemischtes Lernen war und ist in dieser Region Alltag. Aktuell bilden die Erst- bis Viertklässler gemeinsame Lerngruppen und auch die 5.- und 6.-Klässler sowie die Oberstufe werden altersgemischt geführt. Keine atypische Situation für eine Schule in ländlich geprägtem Umfeld. Doch sind diese altersgemischten Klassen Not oder Tugend? Für Schulleiter Thomas Rüegsegger liegt die Antwort auf der Hand. Er ist ein überzeugter Vertreter des altersgemischten Lernens. „Wenn man von der pädagogischen Grundhaltung ausgeht, dass Lernen nicht im Gleichschritt, sondern bei jedem Kind auf eine eigene Art von sich geht, dann findet man im altersgemischten Lerngruppen ideale Voraussetzungen für spannenden Unterricht“, sagt Thomas Rüegsegger. In seiner langjährigen Unterrichtstätigkeit hat er auf allen Stufen unterrichtet und dabei die Vorzüge von altersgemischten Gruppen von den „Erstelern“ bis zu den „Neuntelern“ schätzen gelernt. „Ältere lernen mit Jüngeren und helfen ihnen, verschiedene Altersgruppen arbeiten am gleichen Inhalt und erfahren so verschiedene Facetten eines Themas. Die Rollen der Lernenden variieren und sie geben ihr Wissen aktiv weiter.“
Wichtig ist für Thomas Rüegsegger, der neben seiner Tätigkeit als Lehrer und Schulleiter auch als Dozent an der PH Bern arbeitet, jeden Morgen mit persönlichen Gesprächen in den Tag zu starten. „Wir beginnen den Unterricht mit einem individuellen Austausch, um zu sehen, wo das Kind steht oder wie beispielsweise die Hausaufgaben herausgekommen sind. Erst danach legen wir mit den gemeinsamen Aktivitäten los.“
Austausch ist beliebt
An der Tagung „Lernen sichtbar machen“ der LCH-Arbeitsgruppe „Altersdurchmischte Klassen“ Ende Oktober in Luzern präsentierte Thomas Rüegsegger in seinem Workshop eine Reihe von Praxisbeispielen aus Homberg. Rituale in altersgemischten Gruppen, Lernprozesse mit dem Kompetenzraster begleiten, schreiben und lesen mit dem Naturtagebuch: Die teilnehmenden Lehrpersonen nahmen die Inputs angeregt auf und brachten ihrerseits Praxisbeispiele aus ihrem Alltag ein. Insgesamt 150 Lehrpersonen folgten der Einladung der LCH-Arbeitsgruppe und nutzten die Gelegenheit, sich vor Ort über aktuelle Szenarien und Trends im altersgemischten Lernen auszutauschen. Für Laszlo Fisli, der die Arbeitsgruppe leitet, liegt ein Erfolgsfaktor der Tagung in ihrer Ausrichtung auf ressourcenorientierte, alltagserprobte Inhalte. „Unsere Tagung ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen“, erklärt Laszlo Fisli. „Einerseits liegt das am Boom, den altersdurchmischtes Lernen erlebt, anderseits ist der Wunsch nach Praxisbeispielen und Unterrichtsideen bei Mehrklassen-Lehrpersonen nach wie vor gross.“
Einen thematischen Schwerpunkt der Tagung bildete die Frage, wie sich der Lehrplan 21 und die darin propagierte Kompetenzorientierung auf das altersgemischte Lernen auswirken. Walter Berger, Vorsteher des Thurgauer Volksschulamts und Mitglied der Begleitgruppe des Lehrplans 21, zeigte in einem Referat auf, wie die Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 umgesetzt wird. „Für Lehrpersonen in altersgemischten Klassen ist kompetenzorientierter Unterricht nicht grundlegend neu“, sagt Laszlo Fisli, der an der Primar- und Tagesschule Ziegelried in der Gemeinde Schüpfen Dritt- bis Sechstklässler unterrichtet. „Wenn ich mit einer heterogenen Lerngruppe an gleichen Inhalten arbeite, rückt die Kompetenz ins Zentrum und die Lernziele richten sich daran aus. So kann ich beispielsweise die Grundkompetenz des Dividierens in verschieden grossen Zahlenräumen vertiefen und die Komplexität der Aufgabenstellungen dem individuellen Lernstand anpassen.“
Aktuelle Diskussionen zur Schulentwicklung kommen um das Thema des altersgemischten Unterrichts nicht herum. Da und dort fällt der Begriff des pädagogischen Hypes. Pro Jahr stellen Dutzende von Schulen in der Deutschschweiz von Jahrgangs- auf Mischklassen um. Bekannte und beachtete Beispiele sind die Oberstufe Alterswilen, die Gesamtschule auf dem Schüpberg bei Bern oder die Projektschule impuls in Rorschach. Im Schweizer Durchschnitt ist jede vierte Klasse der Primarstufe altersgemischt, wird also mindestens in Kombination von zwei Jahrgängen geführt. In der Oberstufe schmilzt dieser Anteil auf 3 Prozent.
Während altersgemischte Klassen in der Ostschweiz und im Kanton Bern traditionell stark verbreitet sind, entscheiden sich auch mehr und mehr Schulen in der Region Zürich und in der Innerschweiz für den Systemwechsel. Doch wird dieser Wechsel mit unklaren oder einseitigen Motiven vollzogen, kann das schiefgehen. In Feusisberg führte die geplante Einführung von altersgemischten Klassen zu Spannungen innerhalb der Schule und zur Demission des Schulpräsidenten. Und in Meggen mussten ein Konzept für Mischklassen vorerst auf Eis gelegt werden, zu gross waren die Widerstände aus der Lehrerschaft und die Skepsis seitens der Eltern.
Integrative Ansätze gestärkt
Laszlo Fisli beurteilt den Boom, den altersgemischtes Lernen erlebt, verhalten positiv: „Mischklassen spriessen förmlich aus dem Boden. Doch es gibt neben den pädagogisch überzeugten Schulen auch die strukturell genötigten.“ Sinkende Schülerzahlen, drohende Schulhausschliessungen, finanzielle Einsparungen: Wenn es nur um diese Aspekte gehe, dann sei altersgemischtes Lernen ein Deckmantel, um einfach so weiterarbeiten zu können wie gehabt. „Es ist zentral, die Lehrpersonen zu sensibilisieren und in diesem Prozess mitzunehmen. Ohne pädagogische Überzeugung bleibt altersgemischtes Lernen eine Worthülse.“ Im Kanton Bern führt das seit einem Jahr neu geregelte Schulfinanzierungsmodell dazu, dass Gemeinden stärker für ihre Schulen aufkommen müssen. Wenn strukturelle Überlegungen aber nur mit finanziellen Einsparungen einhergehen, und am Schluss altersgemischtes Lernen dabei „herauskommt“, ist das keine Win-Win-Situation, sondern eine Gefahr für die Qualität der Schule.
Ein zusätzlicher Faktor, der altersgemischtes Lernen in jüngster Vergangenheit beflügelt hat, ist die Entwicklung hin zu integrativen Modellen in der Volksschule. Für Laszlo Fisli eine weitere Stärke: „Altergemischte Klassen leben Integration vor. Wo Kinder mit jüngeren oder älteren im Austausch stehen, ist auch die Integration von Kindern mit Lernschwierigkeiten besser möglich, da es kein Scheinideal einer homogenen Lerngruppe zu überwinden gilt.“ Doch bei allen positiven Punkten ist auch Laszlo Fisli klar der Meinung: „Altersgemischtes Lernen ist nicht einfach ‚von sich aus’ besser. Andere Strukturen bringen andere Risiken mit sich.“ Auch deshalb brauche es mehr Forschungsgrundlagen und mehr Diskurs über diese Konzepte.
Die nächste Tagung der Arbeitsgruppe „Altersdurchmischtes Lernen“ findet in zwei Jahren statt. Im nächsten Jahr organisiert die Kommission für Mehrklassenanliegen des Berner Lehrerinnen- und Lehrerverbands LEBE eine Tagung zu altersgemischtem Lernen.