«Die Geschichten fanden über die Klassengrenze hinaus starke Beachtung. Einige Schüler wurden zu eigentlichen Lieblingsautoren und fanden überdurchschnittlich hohen Anklang», berichtet Projektleiter Andy Schär.
Die Pädagogische Hochschule Nordwestschweiz hat mit 14 Primarschulklassen den Einsatz der Online-Schreibplattform „myMoment“ erprobt. Und dabei überraschende Resultate zu Tage gefördert.
„Vor 222 Jahren fand der Pirat Rotbart in den Strassen von London ein altes Holzbein. Eines Tages fiel ihm das Holzbein auf den Boden. Weil das Holz morsch war, zersplitterte es in 1000 Stücke. Er rief nach seinem Koch: ’Pott, komm hierher und räum die Sauerei weg!’ Als Pott die Unordnung wegwischte, entdeckte er ein altes Pergament.“Soweit der Anfang einer Geschichte, die für einen Primarschüler nicht ungewöhnlich ist. Und doch ist sie nicht ganz gewöhnlich, wurde „Der Pirat, der einen Schatz suchte“ doch von einem Aargauer Primarschüler auf der Online-Schreibplattform www.mymoment.ch veröffentlicht, von einer Vielzahl anderer Schüler gelesen und 29-mal bewertet.
In den vergangenen zwei Jahren wurde „myMoment“ im Kanton Aargau von 14 Primarlehrpersonen und 256 Schülerinnen und Schülern erprobt – ab kommendem Januar steht das Angebot allen aargauischen Primarlehrpersonen offen. Andy Schär, der das Pilotprojekt als Mitarbeiter des Instituts „Weiterbildung und Beratung“ an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz coachte, blickt auf eine erfolgreiche Pilotphase zurück. „Die Rückmeldungen sind durchwegs positiv“, so Schär. „Ich war überrascht, mit welcher Produktivität die Kinder mitmachten.“ Über 2500 Geschichten entstanden während der zweijährigen Pilotphase. Diese wurden rege gelesen. „Die Geschichten fanden über die Klassengrenze hinaus starke Beachtung. Einige Schüler wurden zu eigentlichen Lieblingsautoren und fanden überdurchschnittlich hohen Anklang“, erklärt Schär.
Stufengerecht für Primarschüler
Die Online-Schreibplattform „myMoment“ bietet unterschiedliche Formen der Partizipation. Unter einem Pseudonym loggen sich die Kinder ein und können Texte publizieren, lesen und entscheiden, ob andere ihre Geschichten fortführen und kommentieren dürfen. Sämtliche Geschichten werden in Rubriken abgelegt, von „Minigeschichte“ über „Krimi“ bis zu „Sport“ existieren insgesamt zehn Genres. Online greifbar, können die Schülerinnen und Schüler ihre Geschichten jederzeit verändern.
Beteiligt an der Pilotphase von „myMoment“ waren vorwiegend Erst- und Viertklässler. „Für die Sek-Stufe bestehen bereits Angebote zum Publizieren von Texten im Internet“, führt Andy Schär aus. „Für die Primarschule hingegen war bisher kein stufengerechtes Angebot vorhanden.“ Die Grundidee zu „myMoment“ stammt von einem schwedischen Radiojournalisten, der auf der Homepage seines Senders einen Schreibklub für junge Radiohörer einrichtete (www.ur.se/ogonblick). An einem internationalen Bildungskongress lernte Schär den Journalisten und dessen Projekt kennen – und war begeistert. „Den pädagogischen Überbau zu ’myMoment’ haben wir dann mitsamt der technischen Umsetzung selber entwickelt “, so Andy Schär. Richtete das schwedische Muttermodell sein Hauptaugenmerk auf das Veröffentlichen von Texten, so legte „myMoment“ die Schwerpunkte auf das Lesen, Schreiben und Bearbeiten von Geschichten.
Geförderte Schreib- und Leselust
Ines Schmid, Primarlehrerin in Niederrohrdorf, machte mit ihren Erstklässlern an der Pilotphase mit. Auch sie bilanziert positiv. „Die Motivation der Kinder war gross. Die Arbeit mit dem Computer faszinierte sie“, sagt Schmid. „Vor allem die Möglichkeit, eigene und andere Geschichten auf einer Homepage lesen zu können, begeisterte.“ In ihrem Unterricht investierte sie wöchentlich eine Stunde in „myMoment“, dazu konnte sie mit dem Informatikraum der Oberstufe eine ideale Infrastruktur nutzen. „Die Atmosphäre der myMoment-Lektionen war sehr anspornend. Die Kinder arbeiteten oft gemeinsam an Texten und überprüften sie gegenseitig auf die ihnen bekannten Rechtschreibfehler“, beschreibt Ines Schmid ihre Erfahrungen.
Das Schreiben am Computer erachtet sie als eine bereichernde Ergänzung im Schreiblernprozess. Einerseits würden die Kinder automatisch die zusammengehörenden Gross- und Kleinbuchstaben lernen, da auf der Tastatur nur die Grossbuchstaben zu sehen seien. Anderseits fördere die klare Lesbarkeit der Texte die Leselust der Kinder, führt Schmid aus. Wenn die Online-Schreibplattform „myMoment“ im kommenden Januar allen Aargauer Primarlehrpersonen zur Verfügung steht, so wird auch Ines Schmid mit ihren Schülern wieder daran mitarbeiten. „In meinem Unterricht geniesst das Schreiben allgemein einen grossen Stellenwert.“
Neue Forschungsresultate
Parallel zur zweijährigen Pilotphase führte das Institut „Forschung und Entwicklung“ der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz eine Begleitstudie zur Nutzung von „myMoment“ durch. Ausgewertet wurde die Studie von der Forschungsstelle für berufliches Schreiben der Zürcher Hochschule Winterthur. „Es war technisch möglich, die Arbeitsweise der Schülerinnen und Schüler bis ins letzte Detail zurückzuverfolgen“, sagt Andy Schär. „Dabei stellte sich heraus, dass gerade Erstklässler während dem Schreiben häufig in der Geschichte hin- und herhüpfen, während die älteren Schüler viel geradliniger an einen Text herangehen.“ Diese Resultate gelte es in einem nächsten Schritt wissenschaftlich zu beleuchten.
Will eine Aargauer Primarlehrperson ab Januar bei „myMoment“ mitmachen, so muss sie zuvor eine eineinhalbtägige Weiterbildung zur pädagogisch-didaktischen Anwendung der Internet-Schreibplattform belegen. „Oft verwässern Online-Angebote in qualitativer Hinsicht, wenn sie nicht sachgerecht betreut und begleitet werden. Mit der verbindlichen Weiterbildung wollen wir diesem Effekt entgegenwirken“, erläutert Schär. Das Interesse an „myMoment“ ist aber nicht auf den Aargau beschränkt. Regelmässig erhält Schär Anfragen von Deutschschweizer Lehrpersonen, Weiterbildungsinstituten und anderen Pädagogischen Hochschulen. „Die Ausweitung von myMoment auf andere Kantone ist in Vorbereitung, muss sich aber noch konkretisieren.“
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