Und wenn der Satz von Pythagoras ein Game wäre?

1. November 2017

Mit der webbasierten Plattform "QuesTanja" lässt sich ein Lerninhalt spielerisch gestalten und umsetzen. 

Nichts machen Kinder lieber, als zu spielen. Die Spielpädagogik macht sich dies zunutze, nun setzen Computerspiele zum Sprung ins Klassenzimmer an.

Die Physikstunde beginnt. Mit einem Drachenangriff. 20 Punkte Abzug für den Schüler mit dem höchsten Punktestand. Dann eine Herausforderung: Wer schafft es, die potenzielle Energie zu berechnen, die beim Fall aus zehn Metern entsteht? Die richtige Lösung spielt fünf Punkte ein. Und dann wartet die nächste Stufe.
Was ganz und gar nach einem Spielszenario tönt, gehört für Highschool-Lehrer Shawn Young zum Unterricht wie die Wandtafel. Angelehnt an “World of Warcraft” entwickelte der US-Amerikaner 2013 "Classcraft", ein Fantasy-Spiel für das Klassenzimmer. Neben Noten spielen hier Erfahrungs-, Aktions- und Trefferpunkte eine Rolle. Gute Leistungen haben einen positiven Effekt, schlechte führen zu Abzug. Zu spät gekommen? Minus zehn Trefferpunkte. Einen Fehler im Unterrichtsmaterial entdeckt? Plus 50 Erfahrungspunkte. Was im Klassenzimmer passiert, hält Young in einer Online-Datenbank fest. Für “Classcraft” braucht niemand ausser ihm einen Computer. Mittlerweile stellt er diese Idee weltweit als Online-Tool zur Verfügung. 
Einen Schritt weiter geht das Schulprojekt “Quest to Learn”. Diese New Yorker Schule verordnet sich einen eigenen Lehrplan und inszeniert sämtliche Unterrichtsinhalte in Form von Games und spielerischen Inputs.
 
Zwei Drittel sind “infiziert”
Gamification, Game Based Learning: Diese Begriffe tauchten in den vergangenen Jahren wiederholt als Trends im pädagogischen Diskurs auf. Befürworter betonen die unterstützende Rolle des Spielens für die Zusammenarbeit, das Problemlösen und die Kommunikation. Auch der produktive Charakter zählt zu den Stärken. Man kann experimentieren, andere Identitäten ausprobieren und lernt scheitern. Kurz: Mehr Düsentrieb, mehr Entwicklerin und Erfinderin, mehr “Wunderfitz”.
Gamification will diese Neugier abholen und gewohnte Abläufe mit spielerischen Elementen so gestalten, dass man darin eintaucht. Der dadurch einsetzende Flow motiviert besser als eine nüchterne Aufgabenstellung. In der Wirtschaft und im Alltag ist dieses Konzept im Vormarsch. Ein Paradebeispiel ist die Stockholmer “Pianotrappan”. In einer U-Bahn-Station wurde die Treppe in eine Klaviertastatur verwandelt, jede Stufe erzeugt einen anderen Ton. Mit dem Resultat, dass 66% mehr Menschen die Stufen gehen und auf die Rolltreppe verzichten. Man beeinflusst das Verhalten, indem man einen spielerischen Anreiz schafft. Das gleiche Ziel verfolgt der Detaillist Migros mit seinen Games und Sammel-Gadgets, die ganz selbstverständlich in der Einkaufstasche landen.
Für Kinder und Jugendliche sind digitale Spiele heute präsenter denn je. Die JAMES-Studie 2016 belegt, dass zwei Drittel der Schweizer Jugendlichen täglich oder mehrmals wöchentlich Videogames spielen. Bekannte Games werden auf YouTube in “Lets-Play”-Kanälen heiss diskutiert. E-Sport-Meisterschaften, professionelle Wettbewerbe für Computerspiele, beginnen in Europa Fuss zu fassen. In Asien wächst diese Branche zu einem Wirtschaftszweig heran.
 
Gamedesign bereichert den Unterricht
Nando Stöcklin setzt sich seit mehreren Jahren mit Gamification auseinander. Er ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weiterbildung und Medienbildung der PH Bern tätig. In seiner Dissertation hat er das Potenzial von Gamification in Unterrichtseinheiten erforscht. “Gamification als Begriff kann für Vieles stehen und ist unscharf”, sagt Nando Stöcklin. “Es ist ein grundlegender Unterschied, ob ich mit einer Klasse ein Kahoot-Quiz durchführe oder ob ich eine Unterrichtseinheit spielerisch aufbereite.” Die Frage des Ziels sei entscheidend.
Als der amerikanische Gamedesigner Lee Sheldon 2009 eine Vorlesung in Form eines Games durchführte, war das für Stöcklin ein Erweckungserlebnis. “Sheldon zeigte damit, dass man die Lehre mit Konzepten des Gamedesigns anreichern kann. Daraus haben wir die Idee abgeleitet, eine Plattform zu entwickeln, welche die Verwaltung eines Spiels erleichtert und sich in der Volksschule einsetzen lässt.” So entstand “QuesTanja”, ein Forschungsprojekt der PH Bern und der PH Heidelberg. Im Zentrum der webbasierten Spielumgebung stehen Aufgaben, welche die Schülerinnen und Schüler alleine oder gemeinsam bearbeiten. Dabei sehen sie jederzeit, wer bereits welche Aufgaben gelöst hat, so können sie sich orientieren und gegenseitig helfen. Jede Aufgabe ergibt eine bestimmte Anzahl an Punkten. Die Aufgaben können in eine Storyline eingebettet sein – in diesem Fall schreitet die Geschichte mit jeder Aufgabe voran. Lösungen kann QuesTanja automatisch bewerten, alternativ kann die Lehrperson diese manuell korrigieren. Um das Gefühl des Spielens zu fördern, behilft sich QuesTanja des üblichen Game-Jargons. Aufgaben heissen Quests, Arbeitsblätter sind Zonen, Punkte werden zu Experience Points, fiktive “Questgeber” übernehmen die Funktion der Lehrperson. 
Intensive Erfahrung mit der Plattform gesammelt hat Maria Vogt. Die Primarlehrerin hat vor zwei Jahren das Thema “Rechnen mit natürlichen Zahlen” aus dem Mathbu.ch mit QuesTanja “gamifiziert” und an mehreren 5. und 6. Klassen im Schulhaus Hessgut in Liebefeld erprobt. “Diese Sequenz dauerte rund zwei Wochen, unsere Beobachtungen waren eindrücklich: Die Kinder waren sehr motiviert bei der Arbeit und wollten kaum aufhören.” Aktuell absolviert Maria Vogt ein einjähriges “Fellowship” an der PH Bern und entwickelt daneben die Mathe-Einheit für ihre Kolleginnen und Kollegen in Liebefeld weiter. Vogt gibt zu Bedenken: “Auch wenn die Handhabung intuitiv vonstatten geht, ist die Arbeit mit QuesTanja aufwändig. Ein Thema in eine spielerische Sequenz zu transformieren, benötigt mehrere Tage.”
Auf dem Portal von QuesTanja finden sich Praxisberichte und -videos, unter anderem die Masterarbeit der Oberstufenlehrerin Deborah Kähr. Sie hat einen Teil des Englisch-Lehrmittels “New World” in QuesTanja umgesetzt und evaluiert.
 
Noch wenig verbreitet
Aus Nando Stöcklins Sicht fristet computerunterstützte Gamification in Deutschschweizer Volksschulen ein Mauerblümchendasein. “Das hat nicht zuletzt mit der fehlenden Infrastruktur zu tun. In digitalen Spielsettings ist oft eine 1:1-Ausstattung nötig, was erst an wenigen Schulen Alltag ist.” An der PH Bern findet in der Grundausbildung jeweils ein Input  zu Gamification statt. Doch ist das wirklich neu? Hat nicht die Spielpädagogik der 1970er-Jahre gleiche Methoden propagiert? “Diese Bezüge sind klar, im Grunde wollen wir einfach den Spieltrieb aktivieren. Ob analog, mit digitalen Hilfsmitteln oder in Kombination ist sekundär”, sagt Stöcklin. “Wenn es gelingt, Unterrichtssequenzen in einer spielerischen Form zu präsentieren und Kinder und Jugendliche dadurch gezielter zu motivieren, dann befördert Gamification eine vielfältige und eigenverantwortliche Lernkultur.” 
Um in die Welt digitaler Spiele einzutauchen, bietet die Fachstelle imedias der PH FHNW in Brugg-Windisch und in Solothurn die “Game Domain” an. Das ist eine Lernlandschaft, die über die aktuelle Generation der Gamehardware und ‑software verfügt und Lehrpersonen aufzeigt, wie man Games im Unterricht einbinden kann. Die “Game Domain” ist als Unterrichtseinheit konzipiert und eignet sich für alle Stufen. 
Eine Hilfestellung für analoge Kartenspiele präsentiert die PH Bern mit dem Auftritt “Spiele in der Schule”. Hier lassen sich Spielkarten zu einem beliebigen Thema erstellen und herunterladen. Um in das Thema der Gamification im Unterricht einzusteigen, lohnt sich das Portal der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen. Ein Dossier dokumentiert die Hintergründe und führt Beispiele auf.
 
Weiter im Netz
www.q2l.org (Quest to Learn)
www.goo.gl/PuVNHc (Landesanstalt für Medien NRW)
 
1711a.pdf (467.08 KB)

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