"Und nun wischt alle auf Seite 51"

15. Mai 2013

Digitale Lehrmittel verändern die Schule. (Illustration: Jonas Brühwiler)

In der Schweiz schiessen Tablet-Projekte wie Pilze aus dem Boden. Nicht wenige sehen in diesen mobilen Computern die Wegbereiter für digitale Lehrmittel. Wie reagieren die Lehrmittelverlage auf diese Entwicklung?

„Luzern finanziert Pilotversuch mit fünf Tablet-Klassen“, „Regensdorfer Schüler lernen mit iPads“, „Tablets erobern Solothurner Schulzimmer“: Diese und ähnliche Schlagzeilen belegen den Boom, den Tablets als Lernbegleiter derzeit erleben. Rund 50 Projekte in der Deutschschweiz sind auf www.1to1learning.ch aufgeführt, in Realität dürften es wohl noch einige mehr sein. Seit Anfang des laufenden Schuljahres sind auch drei 1. Sekundarklassen in Hünenberg mit iPads ausgerüstet. Reto Kurmann, Sekundarlehrer und ICT-Verantwortlicher, zieht nach neun Monaten ein positives Fazit: „Die iPads bewähren sich im Unterricht, ich würde sie nicht mehr hergeben.“ Recherchieren, fotografieren, üben, schreiben, Geräusche oder einen Kurzfilm aufnehmen: Die Bandbreite der Einsatzmöglichkeiten sei gross. Der Gebrauch stehe und falle mit der Lehrperson. Kurmann bestätigt, dass für diese Mehraufwand entsteht. „Ich muss Apps suchen, testen und mich à jour halten. Das kostet Zeit.“ Doch für ihn überwiegen die positiven Effekte. „Im Gegenzug werde ich mit zusätzlichem Lerngewinn entlöhnt, bei Schülerinnen und Schülern wie auch bei mir. Der Umgang mit Medien lässt sich mithilfe solcher Geräte deutlich besser thematisieren. Und die Motivation der Schülerinnen und Schüler, an Inhalten zu arbeiten, ist spürbar gestiegen.“

Damit Tablets den Unterricht wirksam verändern, müssen für Reto Kurmann mindestens zwei Bedingungen erfüllt sein. Einerseits braucht es situationsgerechte Einführungskurse und ein Nutzungskonzept, das in der Schule verankert wird. Andererseits sind geeignete digitale Bildungsmedien nötig, damit das Tablet nicht bloss zum Buchersatz verkommt, sondern Lernkollaboration fordert und fördert. Und hier macht Reto Kurmann Nachholbedarf aus: „In meinen Augen verhalten sich die Lehrmittelverlage zu gehemmt. Es wäre für uns in einem ersten Schritt nur schon hilfreich, wenn es die Lehrmittel als PDF in Jahreslizenz gäbe. Wir wären sofort bereit, dafür zu bezahlen.“

Nutzung (noch) nicht breit abgestützt

Weshalb Lehrmittelverlage ihre Werke nicht als PDF verkaufen, erklärt Irene Schüpfer, Geschäftsführerin bei Klett und Balmer, wie folgt: “PDF lassen sich viel zu einfach kopieren. Mit einem Verkauf als PDF würden wir das Urheberrecht unserer Autorinnen und Autoren verletzen. Zudem enthalten Lehrmittel urheberrechtlich geschützte Bilder und Texte aus anderen Quellen.“ Die dafür notwendigen Publikationsrechte hole der Verlag immer für eine bestimmte Anzahl an Verkaufsexemplaren ein und kaufe nach, wenn diese Anzahl aufgebraucht sei. So auch bei digitalen Publikationen, was je nach Anzahl eingekaufter Bilder sehr aufwändig sein könne. „Ich sehe durchaus Potenzial für digitale Bücher mit interaktiven Übungen und Multimediaelementen, so genannte angereicherte E-Books. Die Mehrheit der Lehrpersonen in der Volksschule wünscht aber nach wie vor herkömmliche Lehrmittel in Buchform, die mit interaktiven Übungen ergänzt werden. Hier liegt denn auch der Schwerpunkt in der Weiterentwicklung unserer Angebote für diese Stufe.“

Für das neue Englisch-Lehrmittel „New World“ (5. bis 9. Klasse) entwickelt Klett und Balmer E-Books mit interaktiven Übungen, Audiomaterialien und individuellen Arbeitsblättern. Die Lehrpersonen der Pilotfassung für die 5. Klasse beobachteten allerdings, dass die Schülerinnen und Schüler das E-Book – verglichen mit den Übungen im gedruckten Buch – deutlich weniger stark nutzten.

Am lautesten ist der Ruf nach E-Books auf der Sekundarstufe II, dort bringt Klett und Balmer in Kürze eine Reihe von E-Books mit Jahreslizenzen auf den Markt. Für Irene Schüpfer ist die Frage des Trägermediums aber eine zweitrangige. „In der Lehrmittelentwicklung stehen der Unterrichtsinhalt und die Schülerinnen und Schüler im Zentrum. Daran sollte sich der Entscheid des Publikationsmittels orientieren.“

Ein aktuelles Lehrmittel, das ausgeprägt auf digitale Inhalte setzt, ist „Mille feuilles“ des Berner Schulverlag plus. Neben den klassischen Unterrichtsheften bilden interaktive Sequenzen auf CD-ROM oder als App das Rückgrat von „Mille feuilles“. „Das Echo ist positiv, die Schülerinnen und Schüler arbeiten gerne damit“, bilanziert der Verlagsleiter Peter Uhr. Für ihn befinden sich die Lehrmittelverlage derzeit in einer Übergangsphase. „Wir stehen mit einem Bein in der analogen und mit einem Bein in der digitalen Welt und müssen achtgeben, dass dieser Spagat gelingt.“ Man dürfe vor den Lehrmittelverlagen eine mutige Haltung verlangen, solle aber immer an die nicht ganz einfachen Bedingungen denken: Die IT-Landschaft in den Schulhäusern. „Schule A hat eine fortschrittliche Infrastruktur mit Tablets und Mobilgeräten. Schule B verfügt pro Klassenzimmer über einen älteren Desktop-Computer. Schule C arbeitet mit interaktiven Whiteboards. Diese Heterogenität stellt uns vor grosse Herausforderungen“, erklärt Peter Uhr.

Fokus verschiebt sich

Wenn sich die IT-Landschaft in den Schulhäusern schon dermassen unterschiedlich präsentiert, wollen die Lehrmittelverlage zumindest den Vertrieb ihrer digitalen Produkte vereinfachen. Analog zur deutschen Initiative digitale-schulbuecher.de planen die Deutschschweizer Lehrmittelverlage ihre Produkte zentral auf einem Portal anzubieten. Peter Uhr präsidiert die Expertengruppe, die unter dem Dach des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband SBVV mögliche Szenarien ausarbeitet. Er rechnet damit, dass die Gruppe noch in diesem Jahr einen Grundsatzentscheid für eine Single-Sign-On-Lösung fällt.

Der Schulverlag plus stellt grundsätzlich keine Lehrmittel mehr ohne digitales Begleitmaterial her. Ein Ansatz, der sich laut Peter Uhr noch weiter verlagern dürfte: „Hat man früher ausgehend vom Buch ergänzende ICT-Materialien entwickelt, schauen wir heute das Produkt als Ganzes an und verteilen die Inhalte auf die passenden Trägermedien, ob Papier oder Bildschirm. Künftig wird man Lehrmittelentwicklung wohl digital denken und in einem zweiten Schritt an die analogen, papierbasierten Inhalte gehen.“ Dazu ist aber ein funktionierendes Geschäftsmodell gefragt, und solange dieses für digitale Lehrmittel nicht vorliegt, bringt eine „Nur-noch-digital-Strategie“ hohe wirtschaftliche Risiken mit sich. Denn: „Digitale Lehrmittel kosten nur. Wir verkaufen Print, ICT-Ergänzung gibt's gratis dazu. Dieses Modell dürfte in Zukunft einem Mietlizenzsystem weichen. Dahinter steckt aber ein mehrjähriger Informationsprozess für Schulen und Schulbehörden. Wir müssen aufzeigen, was sich ändert und was neu entsteht“, so Peter Uhr.

Appolino als Pilotversuch

Unter welchen Bedingungen sich im digitalen Umfeld Geld verdienen lässt, erprobt der Lehrmittelverlag St. Gallen mit „appolino“, je drei iPad-Apps für Mathematik und Deutsch (ausführliche Rezension S. ??). „appolino entstand in Zusammenarbeit mit der PH St. Gallen und mit Lehrpersonen. Es war unser oberstes Ziel, gegenüber anderen Apps den fachdidaktischen Mehrwert herauszustreichen“, erklärt der stellvertretende Verlagsleiter Heiko Kahl. Die Testversion der App gibt es kostenlos, eine Vollversion lässt sich als Schullizenz für 21 Franken erwerben. „Wir verzeichnen bis anhin rund 1000 In-App-Käufe, was unseren Erwartungen entspricht.“ Dass man appolino vorerst für das iPad anbiete, habe schlicht mit dessen starker Verbreitung zu tun. „Die proprietären Umgebungen der Tablets erschweren unsere Arbeit. Langfristig gehen wir davon aus, dass die Webbrowser dank HTML5 noch zugkräftiger werden und sich als die Standardapplikation schlechthin etablieren“, sagt Heiko Kahl.

In St. Gallen spürt man einen gewissen Druck von Schulen, im Bereich der digitalen Lehrmittel Inhalte anzubieten. Klar ist aber auch: Schulbudgets sind nicht elastisch und Investitionen in digitale Lehrmittel setzen Investitionen in entsprechende Infrastruktur voraus. Die iPads der zwei Oberstufenklassen in Hünenberg beispielsweise finanzieren Schule und Eltern gemeinsam mit je 80 Franken pro Jahr, angelegt auf drei Jahre. „Wir rechnen damit, dass Schulen künftig vermehrt auf digitale Medien und digitale Lehrmittel fokussieren, was die Käufe ankurbeln wird“, sagt Heiko Kahl. Und der Lehrmittelverlag St. Gallen hat durchaus Grosses vor mit appolino: „Derzeit lassen wir die Mathematik-Apps auf Französisch und Englisch übersetzen. Wir erhoffen uns, im internationalen Markt Fuss zu fassen.“

Schulbuchomat – das etwas andere Lehrmittel

Geht es um Lerninhalte für Tablets, legen auch die Hersteller der Mobilgeräte nicht die Hände in den Schoss. Ob Apple mit iOS, Google mit Android oder Microsoft mit Windows RT: Alle versuchen, ihre Betriebssysteme inklusive „App-Einkaufszentralen“ im Bildungsbereich als Nummer eins zu positionieren. Neben Verträgen mit Lehrmittelverlagen setzt Apple dabei auf die Lehrpersonen und ermöglicht mit „iBooksAuthor“ jedermann, auf einfache Weise interaktive Lerninhalte zu produzieren.

Ein Projekt, das sich diesen Ansatz zunutze macht, ist der „Schulbuchomat“ aus Berlin. Die beiden Lehrer Hans Wedenig und Heiko Przyhodnik haben sich zum Ziel gesetzt, mit einer Gruppe von interessierten Pädagogen ein Biologie-Lehrmittel für das siebte Schuljahr zu entwickeln. Nach einer erfolgreichen Crowdfunding-Aktion, die 10'000 Euro einspielte, befindet sich das Lehrmittel derzeit in der Erarbeitungsphase. Das fertige, angereicherte Ebook veröffentlichen die Berliner unter einer Creative-Commons-Lizenz, kostenlose Nutzung und Weiterbearbeitung inbegriffen.

Wie sich Tablets ganz ohne Lehrmittel innovativ einsetzen lassen, haben Studierende der PH Zürich untersucht. Nach Unterrichtsbesuchen in fünf Klassen, die bereits mit mobilen Geräten arbeiten, haben die angehenden Lehrerinnen und Lehrer eigene Unterrichtssequenzen für Tablets konzipiert und durchgeführt. Ihre Ergebnisse sind lesenswert aufbereitet und bilden einen praxisnahen Einstieg ins Thema.

 

Weiter im Netz

www.snurl.com/26z8aa8
„Das Potenzial von Mobilgeräten für den Unterricht“, ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt von Studierenden im dritten Semester der PH Zürich

www.schulbuch-o-mat.oncampus.de
Das Lehrmittel-Projekt zweier Berliner Lehrer

www.digitale-schulbuecher.de
Die Plattform für digitale Lehrmittel der deutschen Lehrmittelverlage

www.lernen-mit-ipad.ch / www.ipad-schule.ch/Apps
Zwei Übersichten zu Apps für den Unterricht

www.projektschule-goldau.ch
Die Projektschule Goldau erprobt den iPad- und iPhone-Einsatz auf der Mittelstufe.

www.my-pad.ch
Das iPad-Projekt der PH FHNW umfasst 29 Klassen in den Kantonen Solothurn und Aargau.

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