“Schulsysteme hinken grundsätzlich hinterher”

1. Juni 2017

Wie soll die Schule auf die Digitalisierung reagieren? Diese Frage beschäftigt auch die Lehrmittelproduzenten. (Bild: pixabay.com)

Der digitale Wandel stellt die Geschäftswelt auf den Prüfstand. Wie wirkt er sich auf die Schule und die Lehrmittel aus?


Digitalisierung ist ein Schlagwort der Stunde. “Digital Banking”, “Industrie 4.0”: Wer in der Wirtschaft etwas auf sich hält, schreibt sich solche oder ähnliche Begriffe auf die Fahne und versucht, seine Geschäftsprozesse darauf auszurichten. Doch wie steht es um die Schulen in der Deutschschweiz? Werden sie der Digitalisierung gerecht? Oder hinken sie hinterher? “Das kann man so sehen”, sagt Andreas Hieber, Geschäftsleitungsmitglied bei LerNetz. Die Agentur für digitale Lernmedien hat Lehrmittel wie bodenreise.ch, luftlabor.ch oder MoneyFit entwickelt. “Aber”, präzisiert Hieber, “Schulsysteme hinken der Digitalisierung grundsätzlich hinterher, da sie der Tradition verpflichtet sind und nicht sofort auf Innovationen aufspringen.” Es gebe Beispiele für ein forsches Tempo im Umgang mit der Digitalisierung. So Uruguay, wo der Staat innert kurzer Zeit eine Digitalstrategie für den Bildungsbereich umgesetzt habe oder die skandinavischen Länder, wo digitales Lernen weiter sei. Doch auch in der Schweiz stellt Hieber eine gewachsene Aufmerksamkeit fest. “Kantone beginnen, direkt mit Digitalagenturen zusammenzuarbeiten und digitale Konzepte für Lehrmittel zu favorisieren. So entwickeln wir aktuell in Kooperation mit der PH Luzern und der Dienststelle Volksschulbildung des Kantons Luzern ein Lehrmittel, das in erster Linie als Webseite daherkommen wird.” Und in aktuell laufenden Tablet-Projekten in mehreren Kantonen werde nicht nur erprobt, sondern die Grundlage für eine flächendeckende Anwendung geschaffen.
Zusätzlichen Schwung für digitale Lehrmittel ortet Andreas Hieber auch in internationalen Entwicklungen. “Eine zentrale Anforderung an zeitgemässe Lehrmittel ist das Visualisieren und Analysieren des persönlichen Lernprozesses. Hier werden Lösungen, die zu einem digitalen Lernportfolio führen, zukunftsweisend. Der zweite Trend bezieht sich auf die Ausgestaltung von Lehrmitteln. Es wird nicht mehr vorwiegend Text sein, der das Lehrmittel von morgen prägt. Vielmehr rücken Filme, Animationen, mehrschichtige Grafiken oder auch Hörbeiträge in den Fokus.”
 
“Zäumen Pferd am Schwanz auf”
Whiteboards, Laptops, Tablets: Die Infrastruktur in Deutschschweizer Schulen scheint mittlerweile vorhanden. “Wir hören von Lehrpersonen bisweilen die Forderung, dass wir nun die digitalen Inhalte für diese Geräte liefern sollten”, erklärt Irene Schüpfer, Geschäftsführerin bei Klett und Balmer in Baar. “Doch damit zäumen wir das Pferd am Schwanz auf. Es gilt, die Frage nach der didaktisch besten Form zu stellen.” Einen Inhalt nur um der Geräte willen digital anzubieten, helfe niemandem.
Klett und Balmer gehört zur Stuttgarter Klett-Gruppe und im Vergleich zwischen Deutschland und der Schweiz macht Irene Schüpfer Unterschiede aus. “Bei der Verfügbarkeit von WLAN und mobilen Geräten sind die Lücken in Deutschland noch grösser. Schweizer Schulen sind hier weiter.” Auch sei die Einstellung der Lehrpersonen gegenüber Online-Angeboten nicht deckungsgleich. So musste der Verlag in Deutschland digitale Materialien für ein 2016 lanciertes Lehrmittel als CD-ROM nachliefern, nachdem sie zunächst nur online angeboten worden waren. “Lehrpersonen nutzten den Online-Zugang nur spärlich und verlangten die Übungen auf CD-ROM – wegen fehlendem WLAN in den Schulen. Solche Forderungen hören wir von Schweizer Lehrpersonen praktisch nicht mehr”, sagt Schüpfer.
Mit der Nutzung der aktuellen digitale Angebote in der Deutschschweiz zeigt sich Klett und Balmer einigermassen zufrieden. “Zum Englisch-Lehrmittel New World halten wir online digitales Übungsmaterial bereit. Rund ein Drittel der Lizenzen dafür wurden eingelöst. Aus Rückmeldungen wissen wir, dass es oft die Lehrperson ist, die das für die Klasse erledigt.” Als sehr beliebt erwiesen sich zudem die digitale Lehrerausgabe mit den Lösungen und den ergänzenden,  multimedialen Materialien. Das sei für über die Hälfte der Lehrpersonen ein Must-have. “Auf der Basis dieser Lehrerausgabe wäre für bestimmte Lehrwerke auch eine digitale Ausgabe für Schülerinnen und Schüler denkbar”, ergänzt Irene Schüpfer. “Wenn sich eine Schule für eine solche Erprobung interessiert, treten wir gerne in einen Austausch.”
Hinderlich für den effizienten Einsatz von digitalen Lehrmitteln sind die diversen Zugangsdaten für Schülerinnen und Schüler. “Ob personalisierte Logins oder Zahlencodes: Wir stellen fest, dass es teilweise schon am Registrationsprozess scheitert”, sagt Schüpfer. Natürlich könne das jeder Verlag in Eigenregie lösen, das werde aktuell so gehandhabt. “Abhilfe schaffen würde eine digitale ID, doch der Stand einer schweizweiten ID für die Volksschule ist ernüchternd. Uns geht das zu langsam voran.” Die Erziehungsdirektoren-Konferenz EDK ist unter der Federführung von educa.ch daran, unter dem Projektnamen “FIDES - Föderation von Identitätsdiensten” ein System für Volksschule zu entwickeln. Wenn sich die Kantone für einen Aufbau eines gemeinsamen Identitätsmanagement entscheiden, ist mit dem Start 2019 zu rechnen.
 

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