Schule im Strahlenmeer?

15. November 2014

Die mobile Kommunikation verändert unsere Wahrnehmung der Mitwelt - und wie beeinflussen Handy- und WLAN-Strahlen  uns? (Bild: https://www.flickr.com/photos/126915310@N08/)

Für die Einen ist Unterricht ohne kaum mehr denkbar - für die Anderen gefährden sie schlicht die Gesundheit: Wenn über Smartphones und WLAN im Schulzimmer gesprochen wird, können die Wogen hoch gehen. Entscheidend für die Strahlenbelastung ist aber das Medienverhalten der Jugendlichen.

Sie lesen Bücher auf Tablets, lernen Wörtchen mithilfe von Apps und in der Pause sind sie auf Snapchat. Ein Blick in den Alltag von Jugendlichen an Berufsschulen oder Gymnasien kommt dieser Beschreibung relativ nahe. Was diesem Blick verborgen bleibt, ist die elektromagnetische Strahlung, die von den Mobilgeräten ausgeht. Die in den neunziger Jahren aufgekommene Drahtlostechnologie hat unser Kommunikationsverhalten radikal verändert. Und der Wunsch, sich mobil und jederzeit informieren und mitteilen zu können, hat sich in die DNA der Generation Y eingebrannt. Technische Grundlage dieser Entwicklung bilden Mobilfunk und WLAN (Wireless Local Area Network) und damit verbunden elektromagnetische Mikrowellen. Wie diese sich auf die Gesundheit auswirken, ist Gegenstand wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Kontroversen.
In mehreren Kantonen haben sich Interessensgruppen zusammengefunden, um WLAN in Schulzimmern zu verhindern. In Kreuzlingen forderte im vergangenen Herbst der Verein «Strahlungsfreies Kreuzlingen» von der Schule, auf WLAN zu verzichten. Das Anliegen fand kein Gehör, die drahtlose Infrastruktur ist mittlerweile eingeführt. Im Kanton Baselland verfolgt die “IG Lebensgrundlagen BL” das gleiche Ziel, sie will in Schulen Kabelverbindungen und kein WLAN. Die Baselbieter Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion teilt diesen Anspruch nicht; sie hält fest, dass man nur zertifizierte WLAN-Adapter verwende und die Funkstrahlung kein Problem darstelle.
WLAN-Gegner votieren, Funkstrahlung gefährde Kinder und Jugendliche besonders stark und pädagogisch sei WLAN nicht zu begründen. Die Schulbehörden wiederum stützen sich in ihrer Haltung auf das Bundesamt für Gesundheit (BAG). Das BAG beurteilt Strahlung von WLAN-Geräten im Allgemeinen als zu klein und als zu schwach, um akute gesundheitliche Wirkungen auszulösen. Schulhäuser gehören zusammen mit Wohn- und Büroräumen zu den Orten mit empfindlicher Nutzung. Für diese hat der Bund im Jahr 2000 die Obergrenze der elektrischen Feldstärke, also der elektromagnetischen Strahlkraft, auf fünf Volt pro Meter festgelegt.
Seit den vergangenen Herbstferien setzt auch die Schule Milchbuck in der Stadt Zürich auf WLAN in den Schulzimmern, vom Kindergarten bis zur Oberstufe. Die Stadt rüstet alle ihre Schulhäuser in den kommenden Jahren mit WLAN aus. “Als wir die Einführung thematisierten, gab es von Lehrpersonen durchaus kritische Rückfragen zur Strahlenbelastung”, erklärt Nicolas Matile, Co-Schulleiter im Milchbuck. Mit Diskussionen und auch mit dem Hinweis auf den Fernsehbeitrag “Einstein: Unterwegs im Strahlenmeer” von SRF habe man diese Bedenken aber entschärfen können. “Bereits nach wenigen Wochen im Einsatz stellen die Lehrpersonen nun fest, wie die Flexibilität im Unterricht steigt, wenn man mit Laptops mobil auf das Internet zugreifen kann.”
Im erwähnten Beitrag aus der Sendereihe Einstein analysiert ein Experte die Strahlenwerte in einem Schulzimmer der Schule Buebeflade in St. Gallen, während die Klasse mit Tablets und WLAN arbeitet. Die Strahlung bleibt mit einem Spitzenwert von 0,3 Volt pro Meter weit unter dem Grenzwert.


WLAN mit geringem Anteil
Martin Röösli setzt sich seit mehreren Jahren intensiv mit WLAN- und Handystrahlung auseinander. Er arbeitet als Assistenzprofessor am Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut in Basel, einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die gesundheitliche Auswirkung von Mobilfunkstrahlung. Im Rahmen der HERMES-Studie hat er mit seinem Team seit Juni 2012 bei 439 Jugendlichen im Alter von 13 und 14 Jahren Daten zur Handynutzung erhoben. HERMES (Health Effects Related to Mobile Phone use in Adolescents) untersucht, ob Handystrahlung die Gesundheit, die Lernfähigkeit oder das Verhalten der Jugendlichen beeinträchtigt (BILDUNG SCHWEIZ berichtete in der Ausgabe 3/14). Um die Strahlenbelastung der Jugendlichen detailliert zu analysieren, trugen rund 100 von ihnen während zwei bis vier Tagen ein Strahlenmessgerät bei sich. Damit liess sich auch die WLAN-Strahlung in der Schule aufzeichnen. “Bei den Messungen über 24 Stunden zeigte sich, dass WLAN-Strahlung in der Schule nur einen geringen Anteil zur gesamten Strahlenbelastung beiträgt”, erklärt Martin Röösli. Dies sei deshalb so, weil körpernahe Strahlung, wie sie beim Telefonieren mit dem Handy am Ohr entstehe, viel stärker sei. “Wenn ich mit einem Smartphone telefoniere, führt das lokal am Kopf zu einer Strahlenbelastung, die 10’000 bis 100’000 Mal höher ist als ein aktives WLAN.” Röösli fügt aber an, dass man zur Auswirkung von kleinen Mengen an nicht ionisierender Strahlung wenig verlässliche Daten finde. “Die Langzeitwirkung von Niedrigdosen ist noch nicht absehbar, dazu liegen uns keine empirischen Studien vor. Das ist mit ein Grund, weshalb Diskussionen um WLAN- oder Handystrahlung oft von Extrempositionen dominiert werden.” Wer von Schulen komplette WLAN-Abstinenz verlange, solle sich auch die Realität ausserhalb der Schulhäuser vor Augen führen. “In Zügen, Bussen oder im öffentlichen Raum ist die Strahlung im Durchschnitt weit höher.”
Verzichtet eine Schule auf eine WLAN-Infrastruktur kann das durchaus gegenteilige Folgen haben und dazu führen, dass Jugendliche auf die Mobilfunknetze ausweichen, was die Strahlenbelastung um ein Mehrfaches erhöht.


Kinder reagieren empfindlicher
Aus medizinischer Sicht wird vermutet, dass Kinder und Jugendliche empfindlicher auf Strahlung im Mikrowellenspektrum reagieren als Erwachsene. Einerseits ist ihre Gehirnentwicklung noch nicht abgeschlossen, anderseits kann Strahlung aufgrund des kleineren Kopfs in tiefere Hirnregionen eindringen. Mehrere internationale Untersuchungen konnten aber keine direkten gesundheitlichen Folgen nachweisen. In einer von Silke Thomas an der Münchner Ludwig-Maximilian-Universität geleiteten Studie mit 3000 Kindern und Jugendlichen zeigte sich jedoch, dass mit erhöhter Strahlenbelastung bei sieben Prozent der Kinder und bei fünf Prozent der Jugendlichen die Verhaltensprobleme zunahmen. Laut Martin Röösli ist dieses Resultat aber mit Vorsicht zu geniessen: “Aus der Studie lässt sich nicht herauslesen, ob die Handystrahlung zu Verhaltensprobleme führt oder ob Jugendliche mit Verhaltensproblemen schlicht mehr Zeit mit dem Smartphone verbringen und mehr Strahlung ausgesetzt sind.”
Mehr denn ein gesundheitliches sieht Röösli hinter der Entwicklung der mobilen Kommunikation ein gesellschaftliches Risiko. “Je intensiver wir solche Kommunikationsmittel nutzen, desto grösser ist die Gefahr, dass dies auf individueller Ebene zu Abhängigkeit führen kann. Das sind Folgen, die heute noch schwer abschätzbar sind.”
Martin Röösli konnte sich mit HERMES einem EU-Forschungsprojekt anschliessen und führt die Studie nun in angepasster Form weiter. An der Folgestudie sind bis jetzt 150 Jugendliche des 7. und 8. Schuljahres aus den Kantonen Baselland, Basel-Stadt und der Zentralschweiz  beteiligt. “Wir fokussieren im Folgeprojekt stärker auf Fragen zum Umgang mit Smartphones und dem Wohlbefinden: Werde ich unruhig, wenn mein Handy eine Zeit lang ausgeschaltet ist? Beschwert sich mein Umfeld über meinen Mobiltelefongebrauch? Benutze ich mein Smartphone, um mich besser zu fühlen, wenn ich niedergeschlagen bin?”, sagt Röösli. “Uns liegen zur Nutzung der Mobiltelefone durchaus eindrückliche Zahlenwerte vor: 90 Minuten pro Tag mit dem Handy online, rund 50 versendete Kurznachrichten, diese Werte sind für die 2012 erhobenen Zahlen nicht ungewöhnlich.”


Nicht ohne mein Smartphone
Der persönliche Umgang mit dem Smartphone ist für die Strahlenbelastung also weit entscheidender als das drahtlose Netzwerk im Schulzimmer. Alle zwei Jahre befragt die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften über 1000 Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren zu ihrem Medienverhalten (JAMES-Studie). In der Ende Oktober veröffentlichten Erhebung kommt zum Ausdruck, dass 98 Prozent der Jugendlichen ein eigenes Handy besitzen, davon sind 97 Prozent Smartphones. Zum Vergleich: Vor vier Jahren verfügte knapp die Hälfte über ein Smartphone. Telefonieren ist dabei nur eine unter vielen Funktionen: Musik hören, Fotos schiessen, E-Mails lesen, surfen oder gamen sind die meistgenannten Tätigkeiten. Am stärksten verändert aber hat sich die Nutzung des mobilen Internets: Waren 2010 erst 16 Prozent der befragten Jugendlichen täglich oder mehrmals wöchentlich mit dem Handy online, sind es heute 87 Prozent. Hier lohnt es sich, hinsichtlich der Strahlenbelastung zu sensibilisieren.


Strahlung in Grenzen halten
Das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt bei Handy- und WLAN-Nutzung folgende Punkte zu beachten.
WLAN

  • Der Abstand eines dauerhaft benutzten Arbeitsplatzes zum nächsten WLAN-Zugangspunkt sollte mindestens 1 - 2 Meter betragen. Eine Wand dämpft die Strahlung schon recht
  • Der Zugangspunkt soll zentral platziert sein, damit alle zu versorgenden Geräte einen guten Empfang haben
  • Den eigenen WLAN-Adapter im Notebook, Tablet oder Smartphone ausschalten, wenn er nicht gebraucht wird, weil hier die Distanz zum Körper sehr klein ist
  • Den Laptop während der WLAN-Verbindung nicht am Körper halten

Smartphone

  • Smartphones ausschalten, wenn sie nicht gebraucht werden
  • Eine Fernsprecheinrichtung (Kopfhörer) verwenden, um das Smartphone nicht am Ohr halten zu müssen
  • Nur kurz telefonieren oder stattdessen eine SMS schreiben
  • Bei Kauf eines Gerätes auf den SAR-Wert achten
  • Nach Möglichkeit nur bei guter Verbindungsqualität telefonieren

Weiter im Netz
Die Infoplattform zu elektromagnetischen Feldern der Forschungsstiftung Mobilkommunikation (ETH Zürich)
www.emf-info.ch

Der Beitrag “Einstein: Unterwegs im Strahlenmeer”
www.goo.gl/grN6kN
 

11a_2014.pdf (185.14 KB)

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